Corporation 2020 - Warum wir Wirtschaft neu denken müssen

Corporation 2020 - Warum wir Wirtschaft neu denken müssen

von: Pavan Sukhdev

oekom Verlag, 2013

ISBN: 9783865815613

Sprache: Deutsch

296 Seiten, Download: 5559 KB

 
Format:  EPUB, PDF, auch als Online-Lesen

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Typ: B (paralleler Zugriff)

 

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Corporation 2020 - Warum wir Wirtschaft neu denken müssen



EINFÜHRUNG


Scheitern ist lediglich eine Gelegenheit,
von vorne anzufangen – allerdings intelligenter.
Henry Ford
Sucht man im Internet nach »I’d like my life back«, stößt man auf ein Video mit Tony Hayward, Ex-CEO von BP.1 Seine Worte, nicht gerade ein Paradebeispiel unternehmerischer Diplomatie, machten Schlagzeilen, als er am 30. Mai 2010, vier Wochen nach der Explosion auf der BP-Bohrplattform Deepwater Horizon im Golf von Mexiko, versuchte, die von der Ölpest betroffenen Einwohner von Venice, Louisiana, zu besänftigen.
Bemerkenswert an dem Video ist nicht nur Haywards Unfähigkeit zur Empathie, sondern auch die Vorgeschichte dieses Auftritts. Nur ein Jahr zuvor hatte Hayward in einem Interview betont, »Sorgfaltspflicht« sei der wesentlich Antrieb seines beruflichen Lebens.2 Zwar gab er unumwunden zu, dass BP zahlreiche Sicherheitsdesaster zu verantworten hatte, sei es in Texas, in der Prudhoe Bay in Alaska oder anderswo, behauptete aber dennoch, er habe sich seit seiner Ernennung zum CEO im Jahr 2006 bemüht, Sicherheit ganz oben auf die BP-Agenda zu setzen, wobei – natürlich – zu bedenken sei, dass der Hauptzweck des Unternehmens die Erfüllung der Aktionärserwartungen, nicht die Rettung der Welt sei. Ein knappes Jahr später musste er sich einem Sicherheitsdesaster epischen Ausmaßes stellen, der größten Ölpest der Geschichte.3 Nach der Katastrophe war der BP-Aktienkurs abgestürzt: In weniger als sechs Wochen wurde Aktionärsvermögen im Wert von 70 Milliarden USD vernichtet.4
Nach der Deepwater Horizon-Katastrophe stand plötzlich ein völlig anderer Punkt auf Haywards Agenda ganz oben: Schadensbegrenzung. Er focht die Ergebnisse von mindestens drei getrennten und unabhängigen Wissenschaftlerteams an, denen zufolge bis zu 35 km lange Ölschlieren unter der Meeresoberfläche schwammen. Eigene Untersuchungen von BP, so Hayward, hätten keinerlei Hinweise auf ein solches Phänomen gegeben.5 Er musste sich schließlich auch die Frage stellen lassen, warum sich die BP-Manager auf der Deepwater Horizon nur wenige Tage vor dem Blowout offensichtlich nicht für die sichersten Optionen entschieden hatten.6
Ist Hayward als CEO dafür verantwortlich zu machen, dass sein Unternehmen die von ihm selbst gesetzte oberste Priorität – die Betriebssicherheit – nicht einhielt? Oder dass deshalb der schlimmste Kurssturz in der Geschichte von BP in seine Amtszeit fiel? BP hatte gegen keine Gesetze verstoßen, das Unternehmen hatte noch nicht einmal, wie viele US-Firmen, eine Lockerung der Beschränkung von Ölbohrungen im Golf von Mexiko gefordert.7 Und doch war der »Fußabdruck«, den BP im Golf von Mexiko hinterließ, verheerend: Artenverlust, zerstörte Strände, die Austern- und Meeresfischerei wurde zeitweise zum Erliegen gebracht, naturnahe Freizeit- und Tourismusbereiche waren in Mitleidenschaft gezogen und lokale Einkommensquellen unterbrochen. Nach Berechnungen einer Gruppe von Wissenschaftlern beziffert sich der Gesamtschaden für die Umwelt auf einen Wert zwischen 34 und 670 Milliarden USD.8 Nach dem Zwischenfall richtete BP einen Fonds in Höhe von 20 Milliarden USD ein, aus dem die Schadensersatzansprüche gedeckt werden sollten.9 Das allein sind bereits Probleme gigantischen Ausmaßes, zu denen sich ein weiteres hinzugesellte: Aufgrund des öffentlichen Zorns über die Ölkatastrophe war die Zukunft des Unternehmens BP gefährdet. Daher tat Hayward am 30. Mai das, was jeder CEO tut, wenn sein Unternehmen ein gesellschaftliches Problem verursacht: Er versuchte, den Ruf des Ölgiganten zu retten, nicht zuletzt um sich damit die »gesellschaftliche Erlaubnis« zu sichern, das Unternehmen fortführen zu können. Aber nach dem Umweltdesaster folgte das Kommunikationsdesaster.
Die Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP), die BP als Voraussetzung für die Gewährung von Bohrrechten im Golf von Mexiko durchführen musste, scheint schlampig aus früheren Berichten zusammengestückelt worden zu sein. So tauchte darin als eines der Ziele von BP der Schutz des Walrosses auf, eines Säugetiers, das ausschließlich in der Arktis vorkommt. Und als Fachmann, der im Notfall hinzugezogen wird, wurde Professor Peter Lutz genannt, ein renommierter Experte über die Auswirkungen von Ölkatastrophen auf Seeschildkröten – der allerdings bereits 2005 verstorben ist.
In Das Walross und der Zimmermann, Lewis Carrolls berühmten Versen aus Alice im Wunderland, führen die beiden Titelcharaktere eine Gruppe Austern auf einen unsinnigen Ausflug über einen Strand, bevor sie sie verspeisen. Die schlampige UVP, die BP eingereicht hat, präsentierte nicht nur zwei fiktive Charaktere, sie zerstörte Strände und Austernbänke im Golf von Mexiko und sie zeigte eine Unternehmenskultur, in der noch nicht einmal die vom eigenen CEO proklamierte Priorität eingehalten wird. Die UVP legte auch das Fundament für betriebliche Entscheidungen, die die Gesellschaft Milliarden und die Aktionäre rund 70 Milliarden USD kosteten. Ganz zu schweigen von einem CEO, der mit seinem PR-Fauxpas die Sache nur noch schlimmer machte. Und all das von einem Unternehmen, das gerade geschätzte 200 Millionen USD für eine Werbekampagne ausgegeben hatte, die die Zukunft von BP als »Beyond Petroleum« darstellte.10
BP führte eine zornige Öffentlichkeit auf eine wahre Phantasie- und Verschleierungsexpedition. Ist es das, was heute einen multinationalen Konzern kennzeichnet?

Ein Jahr später …


Ein Jahr später, Ende Mai 2011, sitzen zwanzig Nobelpreisträger in Stockholm zusammen, um ihr außergewöhnliches Denkvermögen den größten Problemen des Planeten zu widmen. Ihre Aufgabe ist es, ein Communiqué für Rio+20 auszuarbeiten – einen Umweltgipfel, der im darauf folgenden Jahr stattfinden soll.11
Zu Beginn der Diskussion halten die Wissenschaftler eine Art »Gerichtsprozess« ab. Die Beklagte: die Menschheit. Die Klägerin: die Erde. Die Klage lautet auf »Zufügung eines schweren Schadens« zum Nachteil der Klägerin. Stundenlang wird die Angeklagte ins Kreuzverhör genommen. Die Verteidiger bemühen sich redlich, ihre Mandantin zu entlasten. Doch ohne nennenswerten Erfolg. Die Nobelpreisträger, die in das Richtergremium gewählt worden waren, fällen ihr Urteil: Die Menschheit ist schuldig in fast allen Anklagepunkten. Sie schlagen verschiedene Strafmaße vor, unter anderem 1.000 Jahre Gemeinschaftsdienst! So unterhaltsam dieser »Prozess« als Auftakt der ernsthaften Arbeit auch war, er hinterließ einen bitteren Nachgeschmack. Ist die Menschheit wirklich in der Lage, sich zu ändern, und will sie das auch? Wenn nein, warum nicht? Liegt etwas »Krankhaftes« in dieser selbstmörderischen Verweigerung? Und ist es vielleicht schon zu spät, das Thema auch nur zu diskutieren?
Ich nahm an der Veranstaltung als Experte für eine »grüne Wirtschaft« und die unsichtbare »Ökonomie der Natur« teil. Mein einziger formaljuristischer Einwand gegen den Prozess: Ich hielt ihn für wenig aussagekräftig, denn der Anwalt der Klägerin hatte es versäumt, den unsichtbaren Mitangeklagten der Menschheit, das Unternehmen als Rechtskonstrukt, in den Zeugenstand zu rufen. Das Unternehmen ist in den rund 60 Jahren des mutmaßlichen Fehlverhaltens der Menschheit gegenüber der Erde immerhin der wichtigste wirtschaftliche Akteur der Angeklagten gewesen. Doch nur ein Jahr nach der gigantischen, von einem Unternehmen verursachten Ölkatastrophe im Golf von Mexiko (vielleicht der größten und in der Öffentlichkeit am meisten diskutierten Beschädigung des Planeten Erde in der jüngeren Vergangenheit), spielt das Unternehmen im »Prozess« der Nobelpreisträger nicht die geringste Rolle. Warum?

Der unsichtbare Fuß
und sein sichtbarer Fußabdruck


1759 fand der Moralphilosoph Adam Smith die Metapher von der »unsichtbaren Hand« des Marktes, die die Wirtschaft lenkt und so Wohlstand schafft – sozusagen aus einer Verbindung der Marktkräfte Eigennutz, Wettbewerb, Angebot und Nachfrage.12 Einer der wesentlichen Kritikpunkte an Smith’ Hypothese der »unsichtbaren Hand«, die erklären soll, warum eigennütziges Marktverhalten gesellschaftlichen Nutzen hervorbringt, verweist auf die Tatsache, dass Smith die bedeutenden gesellschaftlichen Kosten ignoriert, die Unternehmen an die Gesellschaft weitergeben, die sogenannten negativen Externalitäten oder externalisierten Kosten.13 Sind die Marktkräfte wirklich die »unsichtbare Hand«, dann ist das Unternehmen (der Hauptakteur einer Wirtschaft und der Hauptakteur auf dem Markt) so etwas wie der »unsichtbare Fuß«. Denn welchen Einfluss hätten Smith’ vier Marktkräfte, wenn es das Unternehmen nicht gäbe?
Ohne die Unternehmen, in erster Linie in Form von Kapitalgesellschaften, wie wir sie heute kennen, würden die meisten Waren nicht oder nur sehr ineffizient produziert werden. Ein Großteil der Nachfrage, die heute durch die von den Unternehmen in Auftrag gegebene Werbung erst geschaffen wird, würde schlichtweg nicht existieren. Wettbewerb wäre ohne seine aggressivsten Mitspieler – die Unternehmen – kaum erkennbar und der Eigennutz würde durch gesellschaftlichen Zweck gemildert werden. Fakt ist aber, dass das Unternehmen in all seiner gewinnsüchtigen und Externalitäten verschweigenden Art der Grundpfeiler der modernen Wirtschaft ist. Tatsächlich ist es das schiere Volumen der externen Kosten, die den »unsichtbaren Fuß« durch seinen sehr großen und überdeutlich sichtbaren »Fußabdruck« erkennbar machen.
Die externalisierten Kosten, also diejenigen Kosten, die...

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