Persönlichkeitsstörungen

Persönlichkeitsstörungen

von: Elisabeth Wagner, Katharina Henz, Heiko Kilian

Carl-Auer Verlag, 2023

ISBN: 9783849780470

Sprache: Deutsch

231 Seiten, Download: 3451 KB

 
Format:  EPUB, PDF, auch als Online-Lesen

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Persönlichkeitsstörungen



Klinisches Erscheinungsbild

2.1 Persönlichkeitsdiagnostik

Bevor wir uns mit der Diagnose »Persönlichkeitsstörung« auseinandersetzen, soll kurz der Begriff »Persönlichkeit« reflektiert werden. In der Psychologie versteht man unter »Persönlichkeit« vor allem die zeitlich überdauernden Eigenschaften und Verhaltensweisen eines Menschen, die in ihrer jeweiligen Konstellation seine Reaktionen erklären und Vorhersagen auf sein künftiges Verhalten ermöglichen:

»Persönlichkeit ist die mehr oder weniger stabile und dauerhafte Organisation des Charakters, Temperaments, Intellektes und Körperbaus eines Menschen, die seine einzigartige Anpassung an die Umwelt bestimmt« (Eysenck 1970).

Definitionen wie diese stammen aus der differenziellen Persönlichkeitspsychologie und fokussieren zeitunabhängige interindividuelle Unterschiede weitgehend stabiler Merkmale zwischen Personen (typen). Für jede Typologie von Persönlichkeiten müssen im Vorfeld einige Entscheidungen getroffen werden:

• Zeitliche Stabilität wird zuungunsten einer Dynamik im Entwicklungsprozess favorisiert.

• Situative Permanenz wird zuungunsten von Situationsabhängigkeit favorisiert.

• Der Fokus wird auf interne Attribution gelegt, zuungunsten der Berücksichtigung sozialer Faktoren (vgl. die Konzepte der Sozialpsychologie – hier wird eben gerade die Bedeutung sozialer Umwelten für die Persönlichkeit/-sentwicklung fokussiert).

• Statt individueller Beschreibung einer Person werden Typen konstruiert und Personen diesen Typen zugeordnet.

2.1.1 Anforderungen an eine »wissenschaftliche« Ordnung in diesem Phänomenbereich

Diagnoseschemata dienen vor allem einem Ziel: der Komplexitätsreduktion durch kategoriale (typologische) oder dimensionale Klassifikationen. Jede Klassifikation beruht auf der Einordnung von Phänomenen, die bestimmte gemeinsame Merkmale haben, in ein Ordnungssystem. Ein ideales Persönlichkeitsdiagnosesystem müsste jedem Individuum nach festgelegten Zuordnungsregeln einen Platz zuweisen und in dieser »Schublade« dürften sich dann nur sehr ähnliche Personen finden, die sich von den Personen in allen anderen Schubladen deutlich genug unterscheiden. Eine Ordnung dieser Art wird zum Beispiel durch das Periodensystem realisiert: Hier werden die Elemente, die die Natur hervorgebracht hat, entsprechend der Ordnung, die die Natur hervorgebracht hat, unterschieden: Kernladung, Zahl der Elektronenhüllen und Zahl der Elektronen in der äußersten Hülle. Kennt man diese Merkmale, kann man die chemischen Eigenschaften eines Elements genau voraussagen. Die Kriterien der Unterscheidung sind nicht beliebig, sondern entsprechen der »natürlichen Ordnung«.

Es versteht sich von selbst, dass es eine vergleichbare »natürliche Ordnung« im Bereich von Persönlichkeit nicht gibt. Es muss also eine »vernünftige Ordnung« geschaffen werden, statt einer beliebigen Kombination von »Charaktereigenschaften«. In diesem Zusammenhang hat sich in der differenziellen Persönlichkeitspsychologe das sogenannte »Big-Five«-Modell durchgesetzt. Die »Big Five« wurden in den letzten zwanzig Jahren in über 3.000 wissenschaftlichen Studien verwendet und gelten heute international als das Standardmodell in der Persönlichkeitsforschung. Die fünf Dimensionen werden folgendermaßen definiert (vgl. u. a. John, Naumann u. Soto 2008):

• Extraversion

• Verträglichkeit

• Gewissenhaftigkeit

• Neurotizismus

• Offenheit des Denkens (bzw. für Erfahrungen)

»Extraversion« (bzw. »Introversion«) beschreibt die Aktivität einer Person und ihr zwischenmenschliches Verhalten. In manchen Quellen wird auch von »Begeisterungsfähigkeit« gesprochen. Personen mit hohen Extraversionswerten sind gesellig, aktiv, gesprächig, personenorientiert, herzlich, optimistisch und heiter. Sie sind zudem empfänglich für Anregungen und Aufregungen.

Introvertierte Personen sind hingegen zurückhaltend bei sozialen Interaktionen, gerne allein und unabhängig. Sie können auch sehr aktiv sein, aber weniger in Gesellschaft.

»Verträglichkeit« ist eine dimensionale Kategorie, die ebenfalls das interpersonelle Verhalten beschreibt: Ein zentrales Merkmal von Personen mit hohen Verträglichkeitswerten ist ihr Altruismus. Sie begegnen anderen mit Verständnis, Wohlwollen und Mitgefühl, sie sind bemüht, anderen zu helfen, und überzeugt, dass diese sich ebenso hilfsbereit verhalten werden. Sie neigen zu zwischenmenschlichem Vertrauen, zur Kooperativität und zur Nachgiebigkeit.

Personen mit niedrigen Verträglichkeitswerten beschreiben sich im Gegensatz dazu als widerstreitend, egozentrisch und misstrauisch gegenüber den Absichten anderer Menschen. Sie verhalten sich eher kompetitiv (mit anderen in den »Wettstreit« tretend) als kooperativ.

Die Kategorie der »Gewissenhaftigkeit« beschreibt in erster Linie den Grad an Selbstkontrolle, Genauigkeit und Zielstrebigkeit. Personen mit hohen Gewissenhaftigkeitswerten handeln organisiert, sorgfältig, planend, effektiv, verantwortlich, zuverlässig und überlegt.

Personen mit niedrigen Gewissenhaftigkeitswerten handeln wenig sorgfältig, spontan und ungenau.

»Neurotizismus« beschreibt individuelle Unterschiede im Erleben von negativen Emotionen und wird von einigen Autoren auch als emotionale Labilität bezeichnet. Der Gegenpol wird dann als emotionale Stabilität, Zufriedenheit oder Ich-Stärke benannt.

Personen mit einer hohen Ausprägung des Neurotizismus erleben häufiger Angst, Nervosität, Anspannung, Trauer, Unsicherheit und Verlegenheit. Zudem bleiben diese Empfindungen bei ihnen länger bestehen und werden leichter ausgelöst. Diese Personen tendieren zu mehr Sorgen um ihre Gesundheit und haben Schwierigkeiten, in Stresssituationen angemessen zu reagieren.

Personen mit niedrigen Neurotizismuswerten sind hingegen ruhig, zufrieden, stabil, entspannt und sicher. Sie erleben seltener negative Gefühle. Dabei sind niedrige Werte nicht zwangsläufig mit dem Erleben von positiven Emotionen verbunden.

»Offenheit des Denkens« schließlich beschreibt das Interesse und das Ausmaß der Beschäftigung mit neuen Erfahrungen, Erlebnissen und Eindrücken.

Personen mit hohen Offenheitswerten geben häufig an, dass sie ein reges Fantasieleben haben, ihre positiven und negativen Gefühle deutlich wahrnehmen sowie an vielen persönlichen und öffentlichen Vorgängen interessiert sind. Sie beschreiben sich als wissbegierig, intellektuell, fantasievoll, experimentierfreudig und künstlerisch interessiert. Sie sind eher bereit, bestehende Normen kritisch zu hinterfragen und auf neuartige soziale, ethische und politische Wertvorstellungen einzugehen. Sie sind unabhängig in ihrem Urteil, verhalten sich häufig unkonventionell, erproben neue Handlungsweisen und bevorzugen Abwechslung.

Personen mit niedrigen Offenheitswerten neigen demgegenüber eher zu konventionellem Verhalten und zu konservativen Einstellungen. Sie ziehen Bekanntes und Bewährtes dem Neuen vor und nehmen ihre emotionalen Reaktionen eher gedämpft wahr.

Marvin Zuckermann etablierte zusätzlich noch die Kategorie der »Risikobereitschaft« (»sensation seeking«). Dieser Faktor definiert sich durch eine Affinität zu Wettkampf, Neugier, Führungsstärke, Kampfgeist, Leistungsbereitschaft, die Bereitschaft, Risiken einzugehen und den Drang nach neuen Reizen (Zuckermann 1988).

Nach dieser einführenden Darstellung der Persönlichkeitsdiagnostik, wie sie sich in der Psychologie durchgesetzt hat, wenden wir uns nun der Diagnostik von Persönlichkeitsstörungen zu. Wir werden versuchen, die »Logik« der gängigen Diagnoseschemata darzustellen und kritisch zu hinterfragen.

2.2 Zur Diagnose von »Persönlichkeitsstörungen«

Eine »Persönlichkeitsstörung« wird diagnostiziert, wenn dysfunktionale Fühl-Denk-Verhaltensschemata die berufliche und private Leistungsfähigkeit der Betroffenen erheblich beeinträchtigen und wenn dies zu subjektiven Beschwernissen führt. Voraussetzung für die Diagnose einer »Persönlichkeitsstörung« ist also die Abweichung von den Erwartungen des soziokulturellen Umfeldes, die zeitlich überdauert, in vielen Kontexten bemerkbar ist und zu einer Beeinträchtigung in wichtigen Funktionsbereichen führt.

Die oben angeführten Prämissen der Definition von »Persönlichkeitsstörungen« lassen sich aus systemischer Sicht natürlich trefflich dekonstruieren. Hans Lieb hat dies ausführlich getan:

»Diagnosesysteme, die vermittels der Beschreibung einzelner Persönlichkeitstypen […] auf das Merkmal ›gestört‹ schließen – und das tun alle diesbezüglichen Diagnoseschemata – begehen logisch einen Kategorienfehler« (Lieb 2009).

Denn wenn man Störungen als Eigenschaften definiert, müsste es reichen, diese als »narzisstisch« oder »histrionisch« zu benennen, man dürfte sie aber nicht – z. B. im Sinne von »gestört« – von anderen Arten von Persönlichkeitsbeschreibungen, wie »fleißig«, »phlegmatisch« oder »hochbegabt«, unterscheiden.

»Niemand aber würde eine fleißige Persönlichkeit als ›gestört‹ bezeichnen« (Lieb 2009).

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