Das demokratische Unternehmen - Neue Arbeits- und Führungskulturen im Zeitalter digitaler Wirtschaft

Das demokratische Unternehmen - Neue Arbeits- und Führungskulturen im Zeitalter digitaler Wirtschaft

von: Thomas Sattelberger, Isabell Welpe, Andreas Boes

Haufe Verlag, 2015

ISBN: 9783648074350

Sprache: Deutsch

312 Seiten, Download: 3566 KB

 
Format:  EPUB, PDF, auch als Online-Lesen

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Das demokratische Unternehmen - Neue Arbeits- und Führungskulturen im Zeitalter digitaler Wirtschaft



Zur Einführung – ein Gespräch mit Thomas Sattelberger


Was zeichnet ein demokratisches Unternehmen aus?1

Der Begriff demokratisches Unternehmen beschreibt einen Idealzustand. Das demokratische Unternehmen kann ähnlich wie Demokratien sehr viele Schattierungen haben. Ich habe vier Dimensionen eines demokratischen Unternehmens identifiziert, wobei nicht alle vier Dimensionen ausgeprägt sein müssen, damit es sich um ein demokratisches Unternehmen handelt. Ein Unternehmen kann mit dem Prozess der Demokratisierung auch in nur einer Dimension beginnen und das in experimentellen Schritten. Das ist mir wichtig. Es geht nicht um ein idealisierendes Gesamtkonzept.

  • Das erste Thema ist Führung. Das demokratische Unternehmen beantwortet die Fragen – „Wer führt mich?”, „Wer vertritt mich?”, „Wie bin ich an Willensbildungsprozessen zur Zukunft des Unternehmens beteiligt?” – anders als das bei klassischen Unternehmen der Fall ist, bei denen Führung „vorgesetzt” wird. Demokratische Unternehmen experimentieren mit Führung auf Zeit, wählen ihre Führung oder operative Führungskräfte oder Projektleiter und wählen diese ggf. auch ab. Das war zum Beispiel bei der Haufe-umantis AG der Fall (siehe Kapitel 15). Das demokratische Unternehmen arbeitet regelmäßig mit Methoden wie Open Space und gibt Menschen die Möglichkeit, Unternehmensentwicklung zu debattieren, sie zu beeinflussen oder gar über die Unternehmensentwicklung zu entscheiden.

  • Die zweite Dimension eines demokratischen Unternehmens hat mit dem Thema Souveränität zu tun. Es geht um selbstbestimmte, gegebenenfalls ausgehandelte Antworten des Einzelnen auf die Fragen „Wann arbeite ich?”, „Wo arbeite ich?”, „Wie arbeite ich?”, „Mit wem arbeite ich zusammen?”, ja sogar um die Antwort auf die Frage „Was arbeite ich?”. Die Mitarbeiter haben eine Stimme, was die Arbeitszeit, den Arbeitsort, Kollaborationsformen, den Arbeitsstil und den Arbeitsinhalt betrifft. Es geht also darum, deutlich mehr Mitspracherechte zu ermöglichen als in einem klassisch top-down, quasi-militärisch organisierten Unternehmen.

    Diese neuen Arbeitsmöglichkeiten werden durch die Digitalisierung erleichtert, weil die Digitalisierung Arbeit entgrenzt, wenn es um Zeit, Ort und Partner geht. Diese Entgrenzung gilt übrigens auch für die Dimension der Unternehmenssteuerung. Die Digitalisierung ermöglicht Liquid Democracy. und Open Innovation

  • Die dritte Dimension der Demokratie im Unternehmen umfasst alle Aspekte der Vielfalt und der Chancenfairness. In diesem Aspekt lehne ich mich sehr stark an das Grundgesetz an, das ein Diskriminierungsverbot und die Gleichheit vor dem Gesetz festschreibt. Für ein Unternehmen bedeutet das diskriminierungsfreie Rekrutierungsverfahren, Leistungsbeurteilungen und Karriereentscheidungen, aber auch eine angemessene Zusammensetzung der Belegschaft eines Unternehmens nach Faktoren wie Alter, ethnischer Hintergrund, Geschlecht und so weiter.

  • Das vierte große Thema stelle ich unter die Überschrift „Das gesunde Unternehmen”. Der Staat denkt ja auch immer stärker darüber nach, ob das Bruttosozialprodukt noch der richtige Maßstab für die Leistungsfähigkeit eines Landes ist. Wo auf gesellschaftlicher Ebene, Begriffe wie Glück, Bildungsniveau oder zufriedenes Leben wichtiger werden, geht es beim gesunden Unternehmen, z. B. um das Ausbalancieren von Belastungen bei der Arbeit, die Verteilung des Erwirtschafteten auf die Stakeholder und das organische Zusammenwirken von Wirtschaft und Gesellschaft.

Was folgt aus den vier Dimensionen des Idealbilds „Demokratisches Unternehmen” für die Praxis?

Mir ist es sehr wichtig, dass sich Unternehmen auf ganz verschiedenen Wegen dem demokratischen Ideal nähern können. Die einen sagen z. B.: „Wir beginnen beim Thema Vertrauensarbeitszeit”, während die anderen bei der Diversity-Politik ansetzen. Ein anderes Unternehmen setzt sich das Ziel, seinen Mitarbeitern bei der Auswahl der Führungskräfte eine Stimme zu geben. Für mich ist entscheidend: Es ist egal, wie und wo ein Unternehmen anfängt, Hauptsache es öffnet die Tür zur Veränderung und packt das Thema an. Pragmatische Ansätze schlagen Wellen. Das ist meine Erfahrung aus der Praxis.

Sie fordern Unternehmen also auf, einen erfolgversprechenden Bereich für Veränderungen auszuwählen und einfach zu beginnen?

Genau. Einfach beginnen. Ob das ein Bereich ist oder zwei – Hauptsache Unternehmen sammeln Erfahrungen. Es geht darum, den Stein ins Wasser zu werfen und in der Praxis etwas zu tun und nicht darum, lange Konzeptdiskussionen zu führen. Kreative Start-up-Ökologien sind durch ihren experimentellen Charakter erfolgreich. Ingenieure haben Prüfstände, Wissenschaftler haben Labore, Transformatoren arbeiten in und mit Social Labs.

Was sind die größten Hindernisse oder Widerstände, die im ersten Moment zu überwinden sind?

Unternehmensführungen, Personalmanager und Betriebsräte haben die Menschen viel zu lange in einer angelernten Unmündigkeit gehalten. Den Aufbruch zu mehr Freiheit haben viele Unternehmen den Mitarbeitern jahrzehntelang in tayloristischen Strukturen ausgetrieben. Hier ist Verlernen und Neu-Lernen angesagt.

Die, die es sich leisten konnten, sind zu Unternehmen gewechselt, die ihnen mehr Freiheit bieten. Sie sind mit dem Kopf durch die Wand der Gefängniszelle gestoßen, fanden sich aber oft nur in der nächsten Zelle wieder. Das Management muss lernen, dass Befehl und Gehorsam und das Bestimmen von Ort, Zeit und Inhalt der Arbeit von oben nach unten nicht mehr funktionieren. Betriebsräte und Gewerkschaften müssen lernen, dass die Unmenge an Schutzrechten in den Zeiten des industriellen Turbo-Kapitalismus nötig war, im Übergang zur digitalisierten Ökonomie jedoch zunehmend untauglich oder gar kontraproduktiv ist.

Die, die es sich leisten können, verschaffen sich also mehr Freiheit. Besteht die Gefahr, dass die Demokratisierung Ungleichheit unter den Mitarbeitern verschärft, weil Hochqualifizierte mehr profitieren, während in weniger qualifizierten Jobs alles so bleibt, wie es ist?

Je gebildeter und qualifizierter Menschen sind, umso mehr beteiligen sie sich an Willensbildungsprozessen. Die Art der Demokratisierung wird in unterschiedlichen Unternehmensbereichen unterschiedlich verlaufen. Der Mitarbeiter in einer getakteten Fertigung zum Beispiel kann nicht souverän über seinen Arbeitsort entscheiden. Aber natürlich gibt es Möglichkeiten zur Demokratisierung der Blue Collar Work. In den 1980er Jahren hatten wir in Deutschland die erste Welle zur Humanisierung der Arbeit. Als ich junger Mitarbeiter im Bildungsbereich von Daimler-Benz war, haben wir den damals noch quicklebendigen Chemie-Riesen Hoechst besucht. In jeder Fabrikhalle gab es einen abgegrenzten Bereich, in dem Mitarbeiter zum Beispiel ihre Vorarbeiter gewählt haben oder sich selbst und ihre Kollegen zur Arbeit oder zum Urlaub eingeteilt haben. Das Thema der demokratischen Organisation ist nicht neu. Wir haben schon überprüfbare Ergebnisse aus der Vergangenheit: Demokratisierung ist auch auf dem Shopfloor möglich.

Die 1980er Jahre waren in Deutschland für das Thema Humanisierung der Arbeit eine Blütezeit. Diese war mit dem Einzug der Shareholder-Value-Ideologie in den 1990er Jahren vorbei. Die Projekte wurden damals eingestellt, nicht etwa weil sie keine positiven Ergebnisse gebracht haben, sondern weil sich das ideologische Paradigma verändert hat.

Sehen Sie grundsätzliche Unterschiede zwischen der Umsetzung einer Demokratisierung im inhabergeführten Mittelstand und
in Konzernen?

Nein. Ein börsennotierter Konzern ist bei der Unternehmensführung allerdings dem Aktionär verpflichtet. Das schließt Möglichkeiten wie etwa eine rollierende Geschäftsführung aus, die ein Start-up vielleicht realisieren kann. Auch die Diskussion um die Vergütungsstruktur im Top-Management bleibt außen vor, weil darüber grundsätzlich die Hauptversammlung entscheidet. Trotzdem haben auch börsennotierte Unternehmen große Gestaltungsbereiche. Im Mittelstand gibt es häufig autokratische oder patriarchalische Unternehmensführer. Auch in kleineren Unternehmen können Ansätze zu Demokratisierung schwierig sein. Es hängt einfach ganz viel davon ab, ob die Unternehmensführung zu Experimenten bereit ist oder nicht. Dies setzt die Fähigkeit zur Selbstreflexion, eine gute Sensorik für den inneren Zustand der Organisation und die Unternehmenskultur sowie die Courage, auch zu scheitern, voraus.

Sie verwenden den Begriff des „Unternehmensbürgers”. Welche Rechte und Pflichten hat er?

Die Pflichten sind immer schon geregelt. Sie erwachsen aus dem Arbeitsvertrag, welche Leistung in einem bestimmten Zeitraum wie zu erbringen ist usw. Auch der Begriff des Unternehmensbürgers ist nicht neu. Der Soziologie Fritz Vilmar von der Freien Universität Berlin hat in den 1970er Jahren intensiv über die Themen Bürger am Arbeitsplatz und Demokratisierung und Humanisierung der Arbeit geforscht. Ähnliche Studien hat der norwegische Psychologe Einar Thorsrud gemeinsam mit seinem australischen Kollegen Fred Emery betrieben. Es handelt sich also um einen tradierten Begriff, der verschollen war und den ich aus dem Geröll hervor geholt habe. Dieser Citoyen im Sinne der Werte der französischen Revolution hat...

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