Kunst und Kreativität in der Palliative Care

Kunst und Kreativität in der Palliative Care

von: Gillie Bolton

Hogrefe AG, 2013

ISBN: 9783456750965

Sprache: Deutsch

400 Seiten, Download: 3142 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Kunst und Kreativität in der Palliative Care



1 Einführung: Sterben, Verlust und die heilende Kraft der Kunst


Gillie Bolton

Kunst und Kreativität in der Palliative Care ist eine Huldigung an die Wirkmacht der Kunst. Vermutlich haben Tanz, Gesang, Trommeln und Höhlenmalerei diese Macht erlangt, als die Menschen Kommunikationsformen entwickelten, die sich von denen der Tiere unterschieden. Wer echten Kontakt zu anderen und zu den eigenen Möglichkeiten hat, ist durch und durch lebendig, und wer etwas erschafft, verwirklicht sein Menschsein in vollem Umfang. Sterben, Verlust und Schmerz sind neben der Geburt die einzigen Gewissheiten im Leben. Deshalb hat die Kunst sie immer im Blick – sie hilft uns, sie zu verstehen und sie voll zu leben, anstatt sie bloß zu ertragen. Die Kunst hilft uns bei dem mühsamen Versuch, uns selbst und unsere Rolle in der Welt zu verstehen. Wir sehen durch Glas undeutlich: die Kunst bringt Klarheit.

Ein Künstler ist eine Art Schamane – er begibt sich mutig in andere Welten auf der Suche nach Erkenntnis und erhellenden Bildern. Bei seiner Rückkehr inspiriert er uns erdgebundene Sterbliche, indem er uns an seinen Erkenntnissen teilhaben lässt und uns einlädt, uns in seine fantastischen Reiche zu wagen. Schon der schöpferische Prozess kann Erkenntnisse vermitteln und eine heilende Wirkung entfalten. Zudem bleiben die fertigen Ergebnisse, wie beispielsweise Bilder oder Texte, unseren Lieben erhalten. «Durch die Kunst kommt man der Unsterblichkeit am nächsten.» (Hirst 2006, S. 46)

Kunst und Kreativität in der Palliative Care will die Kommunikation zwischen dem Künstler/Schamanen, den Fachleuten aus den Bereichen Medizin und Gesundheitsfürsorge, den Praktikern, wie etwa Geistliche, und den Patienten fördern. Je mehr Interaktion, desto besser wird die Verständigung, Heilung und Unterstützung sein und desto größer die Möglichkeit, Erkenntnis, Freude und eine Stärkung des Selbstvertrauens zu gewinnen. Das Buch ist sehr anschaulich und deckt ein umfangreiches neues, sich entwickelndes Gebiet ab. Es enthält keine Richtlinien oder Anleitungen, sondern es will Spezialisten und Nichtspezialisten den Bereich der Kunst nahebringen. Ich hoffe, dass die Leser die vielen Menschen, denen die Kunst hilft, und auch die Künstler, die sie anbieten, besser verstehen werden und nachvollziehen können, wie, wann, wo und warum Kunst so eine unterstützende, erzieherische, zum Nachdenken anregende, therapeutische und manchmal sogar offenbarende Wirkung hat.

Zu den Autoren gehören Künstler (Maler, Schriftsteller, Bewegungskünstler, Musiker), Fachleute (Praktiker aus den Bereichen Medizin und Gesundheitsfürsorge, Therapeuten, Kunsttherapeuten, Sozialarbeiter, Geistliche), Patienten und Angehörige. Viele Autoren berichten von ihren persönlichen Erfahrungen mit der Kunst und schildern beispielsweise, wie Malen ihnen geholfen hat, mit Krebs und lebensbedingten Problemen fertig zu werden. Andere stellen anschaulich die positiven Ergebnisse ihrer künstlerischen Arbeit mit Patienten oder Klienten dar. In einem langen Kapitel über die Kunst der Pflege und Betreuung (engl.: art of care) erörtern klinische Fachleute Einstellungen, die es ermöglichen, ihre praktische Arbeit als Kunst zu verstehen. Zwei Geistliche beschäftigen sich mit spirituellen Dimensionen.

Bestimmte Kunstformen sind stärker vertreten als andere. Viele bildende Künstler und Kunsttherapeuten wollten oder konnten trotz hervorragender praktischer Arbeit keinen Beitrag für Kunst und Kreativität in der Palliative Care schreiben: Ihre Stärke liegt im nonverbalen Bereich. Ich habe einige dieser nonverbalen Künstler interviewt und gemeinsam mit ihnen an einer Transkription gearbeitet, aber die Zeit hat nicht für viele gereicht. Die Erfahrungen im Zusammenhang mit Kunst, um die es hier geht, sind:

1. die Arbeit mit Kunst ohne ein offenkundiges therapeutisches Ziel

2. direkte therapeutische Arbeit, die auf Erkenntnisgewinn oder Heilung abzielt

3. professionelle Unterstützung von Praktikern in Form von kritisch reflektierender Praxis (engl.: reflective practice).

Der Künstler Damian Hirst (2006, S. 47), dessen Arbeiten und Sammlungen sich mit dem Tod auseinandersetzen, sagte: «Wir versuchen immer, den Tod auszuklammern, aber wenn man ihn akzeptiert, ist er keine Bedrohung mehr.»

1.1 Wie man aus einem Stein Suppe macht


Es war einmal ein pfiffiger Dorfbewohner, der stand an seiner Eingangstür und genoss die letzten Sonnenstrahlen. Ein müder Wanderer kam des Wegs, gerade in dem Moment, als drinnen der Wasserkessel zu pfeifen begann.

«Hallo, Sie», sagte der Wanderer. «Sie haben einen schönen Garten.»

«Hmm ja, steckt viel Arbeit drin.»

«Ist das Ihr Wasserkessel, den ich da höre? Ich würde sehr gerne eine Tasse Tee mit Ihnen trinken.»

Der Dorfbewohner blickte finster: «Ich weiß nicht so recht. Tee wächst nicht auf Bäumen.»

«Also wenn schon kein Tee, wie wäre es dann mit einem schönen Topf Suppe!», erwiderte der kecke Wanderer und erntete als Antwort einen noch finstereren Blick.

«Haben Sie in Ihrem Garten vielleicht einen schönen glatten Stein? Ich kann Ihnen sagen, wie man aus einem Stein Suppe macht.»

Der Dorfbewohner blickte plötzlich nicht mehr finster drein, und seine Augen begannen zu glänzen. «Können Sie das wirklich? Hier ist ein Stein. Und jetzt?»

«Nun, Sie müssen ihn gut waschen, ihn in eine große Pfanne mit Wasser legen, auf den Ofen stellen und vielleicht etwas Pfeffer und Salz hinzufügen.»

Nachdem dies getan war, stand der Wanderer neben dem Ofen, schaute sich prüfend in der Küche um, blickte dann durch das Fenster in den Gemüsegarten, während er scheinbar scharf nachdachte.»

«Und nun?» drängte der Dorfbewohner.»

«Aaalso. Sie haben nicht zufällig eine Zwiebel?»

Der Rest lässt sich erraten: Die Zwiebel war nicht die letzte Zutat, die der Dorfbewohner «zufällig» hatte und in den Topf legte. Später saßen sie bei einer hervorragenden Gemüsesuppe mit Fleisch zusammen, aus der inzwischen ein reichhaltiger Eintopf geworden war.

Beide waren sehr zufrieden mit sich.

(Eine Geschichte, die beinahe so alt ist wie der Stein, wiedergegeben von Gillie Bolton)

Die heilende Kraft der Kunst ist wie diese Zaubersuppe. Am Anfang scheint nichts weiter da zu sein als der schwere und unergiebige Stein. Etwas hinzuzugeben kann lästig, lächerlich und gefährlich erscheinen, denn der Gedanke, Kunst zu erzeugen, liegt außerhalb der Vorstellung der meisten Menschen. Ein Künstler/Berater oder Kunsttherapeut kann bewirken, dass es völlig selbstverständlich und geradezu ein Vergnügen ist, den Pinsel in Farbe zu tauchen, Tonerde zu formen, eine Bewegung mit der Hand zu machen, Klingende Stäbe (engl.: chime bars) zu berühren oder sich bildhaft auszudrücken: «Mein Vater war wie ein Ziegelstein.» Wie bei einer Zwiebel werden so die einzelnen Schichten freigelegt. Dann können erfahrene und liebevolle Hände helfen, dass ein ausdrucksstarkes, tröstendes, erhellendes und höchst befriedigendes Bild oder ein Tanz, ein Gedicht, eine Statue oder ein Lied entsteht.

Kunst liefert keine Antworten, aber sie wirft faszinierende Fragen auf, deren Beantwortung eine endlose Suche in Gang setzt. Dabei stößt man auf neue Fragen, auf die grundlegenden Fragen des Lebens: «Was passiert, wenn ich sterbe?»; «Wie empfinden meine Angehörigen den Verlust?»; «Was ist schön in dieser Welt, die ich bald verlassen werde?»; «War mein Leben in irgendeiner Weise von Bedeutung?» Diese Fragen, diese Suche nach dem Sinn des Lebens, richtet den Blick nach innen, und die sich künstlerisch betätigenden Palliativpatienten, trauernden Angehörigen oder Praktiker müssen nicht einmal ihr Bett oder ihren Stuhl verlassen, um sich damit auseinanderzusetzen. Dies steht im Einklang mit den Worten des alten Weisen:

Ohne nach draußen zu gehen, kannst du die ganze Welt kennenlernen. Ohne durchs Fenster zu schauen, kannst du das Walten des Himmels sehen. Je weiter du gehst, desto weniger weißt du. (Lao Tse 1973, Kapitel 47)

Und eine Erkenntnis in Anlehnung an den Ausspruch (über das Reisen) des Dichters G. K. Chesterton besagt, dass es beim Schreiben nicht darum geht, fremdes Land zu betreten, sondern darum, endlich das eigene Selbst als fremdes Land zu betreten.

Krankheit, Behinderung und Verlust können die Wahrnehmung des Lebens von Menschen zerstören, und das Wissen, dass sie bald sterben werden, macht alles noch viel schlimmer. Jeder Mensch hat seine Lebensgeschichte, die Auskunft darüber gibt, woher er kommt und wohiner geht, was er vorhat und wie er leben möchte. Selbst die Sterbenden müssen einen Lebensplan haben, wenn auch einen viel kürzeren. Und wenn sie eine zufriedenstellende Lebensgeschichte vorweisen können, dann fällt ihnen das Sterben leichter, und sie erleichtern gleichzeitig auch das Leben ihrer Lieben und derer, die sich professionell um sie kümmern.

Krankheit, Sterben und Verlust geht nicht nur mit Schmerz, Entstellung, Desorientierung, Immobilität oder kognitiven Beeinträchtigungen einher, sondern die Menschen müssen auch ihre Konzepte davon anpassen, wer sie sind, welches ihre wichtigsten Beziehungen sind, wo und wie sie leben können, welche Arbeit – wenn überhaupt – sie ausüben können, welches ihre Hobbys sind und was sie für ihr Leben erhoffen oder befürchten. Ihre Wahrnehmung ihrer Lebensgeschichte wurde zerstört, und sie müssen hart arbeiten, um eine neue,...

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