Was macht der Fisch in meinem Ohr? - Sprache, Übersetzen und die Bedeutung von allem

Was macht der Fisch in meinem Ohr? - Sprache, Übersetzen und die Bedeutung von allem

von: David Bellos

Eichborn AG, 2013

ISBN: 9783838725406

Sprache: Deutsch

448 Seiten, Download: 5063 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Was macht der Fisch in meinem Ohr? - Sprache, Übersetzen und die Bedeutung von allem



2. IST ÜBERSETZEN VERZICHTBAR?


Übersetzungen begegnet man überall – bei den Vereinten Nationen, bei der Weltgesundheitsorganisation, in der Europäischen Union und in zahlreichen anderen internationalen Körperschaften, die Grundlagen des modernen Lebens regeln. Übersetzen ist ein fester Bestandteil des modernen Wirtschaftslebens, und es dürfte keinen großen Industriezweig geben, in dem die hier tätigen Unternehmen für ihre Abläufe nicht auf Übersetzungen zurückgreifen und sie ihrerseits anfertigen lassen. Wir finden Übersetzungen in den Bücherregalen bei uns zu Hause, auf den Lektürelisten aller Kurse aller an Gymnasien und Hochschulen unterrichteten Fächer, wir finden sie auf Etiketten industriell verarbeiteter Lebensmittel und als Bauanleitung auf Möbelkartons. Kämen wir ohne Übersetzungen überhaupt zurecht? Es ist müßig, sich zu fragen, in was für einer Welt wir leben würden, wenn in ihr nicht ständig und in allen Bereichen übersetzt werden würde, von zweisprachigen Bedienungsanleitungen auf den Bildschirmen von Bankautomaten bis zu vertraulichen Gesprächen zwischen Staatsoberhäuptern, vom Garantieschein für die neue Uhr, die wir gerade gekauft haben, bis zu den Klassikern der Weltliteratur.

Trotzdem kämen wir auch ohne das alles durchs Leben. Anstatt auf Übersetzungen zurückzugreifen, könnten wir die Sprachen aller anderen Gemeinschaften lernen, mit denen wir Kontakte pflegen wollen. Wir könnten uns auch darauf verständigen, alle dieselbe Sprache zu sprechen, oder uns für eine Sprache entscheiden, die wir alle für die Kommunikation mit anderen Gemeinschaften verwenden. Und falls wir vor der Übernahme einer gemeinsam verwendeten Sprache zurückschrecken und das Erlernen anderer benötigter Sprachen ablehnen, könnten wir die Menschen, die nicht sprechen wie wir, immer noch ignorieren.

Diese drei Möglichkeiten nehmen sich ziemlich drastisch aus und wahrscheinlich kommt keine davon für Leser dieses Buchs ernsthaft infrage. Dennoch sind es keine Scheinlösungen für die vielen Paradoxien interkultureller Kommunikation. Alle drei übersetzungsfernen Formen gesellschaftlichen Lebens sind historisch belegt. Ja, mehr noch: Der Verzicht auf Übersetzen, ob auf die eine oder andere oder gleich mehrere der genannten Arten, entspricht der historischen Norm auf unserem Planeten vermutlich eher als die Übersetzungskultur, die heute weltweit für selbstverständlich gehalten wird. Eine große Wahrheit über das Übersetzen, die oft totgeschwiegen wird, lautet: Viele Gesellschaften kamen sehr gut ohne aus.

Auf dem indischen Subkontinent leben seit Langem viele unterschiedliche Volksgruppen, die eine Vielzahl von Sprachen sprechen. Dennoch ist eine Tradition des Übersetzens in Indien unbekannt. Noch bis in die jüngste Vergangenheit gab es keine direkten Übersetzungen zwischen Urdu, Hindi, Kannada, Tamil, Marathi und so weiter. Und doch leben diese Gemeinschaften seit Jahrhunderten dicht an dicht auf einem überfüllten Kontinent zusammen. Wie haben sie das gemacht? Sie haben andere Sprachen gelernt! Nur wenige Bewohner des Subkontinents sind jemals nur einsprachig gewesen; die Bürger Indiens sprechen traditionell drei, vier oder fünf Sprachen.1

Im späten Mittelalter war die Situation in vielen Teilen Europas ganz ähnlich. Händler und Dichter, Seeleute und Abenteurer nahmen bei ihren Reisen über Land und an den Küsten der Binnenmeere mehr oder weniger eng verwandte Sprachen oder sprachliche Mischformen auf, und nur die aufmerksamsten unter ihnen verschwendeten überhaupt einen Gedanken daran, ob sie andere »Sprachen« sprachen oder sich lediglich an lokale Besonderheiten anpassten. Der große Entdecker Christopher Kolumbus ist ein ungewöhnlich gut dokumentiertes Beispiel für die wechselseitige Verstehbarkeit und Austauschbarkeit europäischer Sprachen im späten Mittelalter. Auf den Rändern seiner Plinius-Ausgabe machte er Notizen in einer Sprache, die wir heute als Frühform des Italienischen ansehen, verwendete zur Bezeichnung seiner Entdeckungen in der neuen Welt jedoch überwiegend portugiesische Ortsnamen – wie beispielsweise Kuba. Offizielle Korrespondenz wiederum verfasste Kolumbus in kastilischem Spanisch, das kostbare Bordbuch, das er auf seinen Reisen führte, schrieb er aber auf Latein. Er fertigte allerdings auch eine »geheime« Kopie des Bordbuchs auf Griechisch an und muss immerhin so viel Hebräisch gekonnt haben, dass er den sogenannten Almanach Perpetuum, die Planetentafeln von Abraham Zacuto, benutzen und so eine Mondfinsternis voraussagen konnte, womit er bei dem in der Karibik vorgefundenen indigenen Volk Eindruck machte. Er muss die Lingua franca gekannt haben – eine »Verkehrssprache«, bestehend aus einer vereinfachten arabischen Syntax und einem überwiegend aus dem Italienischen und dem Spanischen entnommenen Wortschatz, die Seeleute aus der Mittelmeerregion und Kaufleute vom Mittelalter bis zum anbrechenden 19. Jahrhundert verwendeten –, weil er einige typische Wörter daraus einflocht, wenn er auf Kastilisch und Italienisch schrieb.2 Wie viele Sprachen also konnte Kolumbus, als er 1492 den Ozean bereiste? Nicht anders als beim heutigen Indien, wo zwischen mehreren der dort gebräuchlichen Sprachen eine gewisse wechselseitige Verständigung möglich ist, wäre jede Antwort wohl nicht ganz frei von Willkür. Es ist wenig wahrscheinlich, dass Kolumbus Italienisch, Kastilisch oder Portugiesisch überhaupt als verschiedene Sprachen auffasste, denn es gab noch keine Grammatikbücher dafür. Kolumbus war zwar gebildet insofern, als er die drei antiken Sprachen lesen und zwei davon schreiben konnte. Ansonsten war er aber nur ein Seefahrer vom Mittelmeer und verwendete die Varietät der Sprache, die er jeweils benötigte, um seine Arbeit zu machen.

Weltweit werden heute ungefähr 7000 Sprachen gesprochen,3 und kein Mensch könnte sie alle lernen. Bei fünf bis zehn dürfte die Grenze in allen Kulturen erreicht sein, wie vielsprachig sie auch sein mögen. Ein paar Sprachenbesessene haben es auf 20 gebracht, und einige Ausnahmelinguisten, die nichts anderes tun, als Sprachen zu lernen, geben an, 50 oder sogar noch mehr zu beherrschen. Doch sogar diese Manikerhirne meistern nur einen Bruchteil aller Sprachen, die es gibt.

Die meisten auf der Welt existierenden Sprachen werden nur von sehr kleinen Gruppen gesprochen – der wichtigste Grund, weshalb viele vom Aussterben bedroht sind. Außerhalb der Handvoll Länder, in denen eine des halben Dutzends »großer« Weltsprachen gesprochen wird, verfügen jedoch nur wenige Menschen auf der Welt lediglich über eine Sprache. In der Russischen Föderation zum Beispiel werden Hunderte von Sprachen gesprochen – die zur slawischen, türkischen, kaukasischen, altaischen und zu anderen Sprachfamilien gehören. Es gibt in diesem Vielvölkerstaat aber kaum jemanden, der nicht zusätzlich auch Russisch spräche. Ebenso gibt es in Indien nicht viele Menschen, die nicht entweder Hindi oder Urdu oder Bengali oder Englisch oder eine des anderen halben Dutzends auf dem Kontinent gebräuchlichen Verkehrssprachen als zweites Idiom beherrschten. Kleine Teile der gesamten Weltbevölkerung ausgenommen, braucht man nicht alle ihre Muttersprachen zu lernen, um mit ihnen in Kontakt zu treten. Lernen muss man alle ihre Verkehrssprachen – die Sprachen, die Nicht-Muttersprachler benötigen, damit sie mit muttersprachlichen Verwendern einer dritten Sprache kommunizieren können. Es sind insgesamt etwa 80 Sprachen, die zu diesem Zweck irgendwo auf der Welt eingesetzt werden. Da diese Verkehrssprachen zugleich aber die Muttersprachen von (in der Regel sehr großen) Gruppen sind und da viele Menschen mehr als nur eine Verkehrssprache sprechen (die ihre Muttersprache sein kann oder auch nicht), braucht man nicht alle 80 Verkehrssprachen zu lernen und kann trotzdem mit den meisten Menschen auf diesem Planeten kommunizieren. Ganze neun genügen – Chinesisch (1,3 Milliarden Benutzer), Hindi (800 Millionen), Arabisch (530 Millionen), Spanisch (350 Millionen), Russisch (278 Millionen), Urdu (180 Millionen), Französisch (175 Millionen), Japanisch (130 Millionen) und Englisch (etwas zwischen 800 Millionen und 1,8 Milliarden) –, und man kann mit mindestens 4,5 Milliarden und vielleicht sogar 5,5 Milliarden Menschen, das heißt mit etwa 90 Prozent der gesamten Weltbevölkerung, zumindest passable Alltagsgespräche führen, wenn auch vermutlich keine eingehenden Verhandlungen oder tiefgründige intellektuelle Debatten. (Die verblüffende Schwankungsbreite bei der geschätzten Zahl derer, die »Englisch sprechen«, verweist auf die Schwierigkeit, dass wir nicht genau angeben können, was »Englisch sprechen« bedeutet.) Fügen Sie noch Indonesisch (250 Millionen), Deutsch (185 Millionen), Türkisch (63 Millionen) und Suaheli (50 Millionen) hinzu, um das Bäckerdutzend vollzumachen,4 und Sie sind außerdem in ganz Nord- und Südamerika, im Großteil Europas vom Atlantik bis zum Ural, im großen islamischen Halbmond von Marokko bis Pakistan, in einem Gutteil Indiens, einem Streifen Afrikas und im Großteil des dicht besiedelten Ostasiens sprachlich Herr der Lage. Was wollen Sie mehr?5 Übersetzer ab! Auftritt der Sprachtrainer! Die auf der Sprachenbühne agierende Truppe wäre mehr oder weniger identisch, deshalb ginge der Nettoverlust an Jobs weltweit wahrscheinlich gegen null.

Wenn 13 Sprachen unpraktikabel sind, warum dann nicht alle Menschen dieselbe Sprache lernen lassen? Für die Römer lag das nahe; sie machten kaum Anstalten, die Sprachen der zahlreichen Völker zu lernen, die sie erobert hatten, abgesehen vom Griechischen als der...

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