Handlexikon der Behindertenpädagogik - Schlüsselbegriffe aus Theorie und Praxis

Handlexikon der Behindertenpädagogik - Schlüsselbegriffe aus Theorie und Praxis

von: Markus Dederich, Iris Beck, Georg Antor, Ulrich Bleidick

Kohlhammer Verlag, 2016

ISBN: 9783170299344

Sprache: Deutsch

496 Seiten, Download: 3533 KB

 
Format:  EPUB, PDF, auch als Online-Lesen

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Handlexikon der Behindertenpädagogik - Schlüsselbegriffe aus Theorie und Praxis



1          Grundlagen der Pädagogik


 

 

 

Beurteilung


Häufig und in vielen Zusammenhängen müssen professionelle Pädagogen Beurteilungen abgeben: Beurteilungen der Lernausgangslage und des Entwicklungsstandes ihrer Schülerinnen und Schüler (→ Entwicklung), ihrer Fördermöglichkeiten und ihres Förderbedarfs (→ Fördern, Förderung, Förderbedarf), ihrer Lernfortschritte und Lernergebnisse (→ Lernen), Beurteilungen des Förderpotentials von Unterrichtsarrangements, Lernmaterialien und Lernmedien, Beurteilungen des Anspruchsniveaus von Aufgaben usw.

Eine professionelle Beurteilung von Schülerleistungen, auf die sich dieser Beitrag beschränkt, erfordert vier Überlegungen (Sacher/Winter 2011; Sacher 2014, Kap. 4 u. 5):

Es sind erstens präzise Erwartungen zu formulieren, auf welche die Leistungsbeurteilungen bezogen werden. Je nachdem, welche Art der Leistung zu erwarten ist, sind dabei unterschiedliche Verfahren anzuwenden:

Wenn sich die Gesamtleistung aus einer Summe von richtigen oder falschen Einzelleistungen ergibt (z. B. in Mathematik, beim Rechtschreiben oder im Sachunterricht), sind Teilleistungen und Einzelschritte der Gesamtleistung so weit zu identifizieren, dass sie in der Form von Rohpunkten oder Fehlern abgezählt werden können.

Wenn eine ganzheitliche Gesamtleistung von mehrdimensionaler Qualität vorliegt (z. B. im Aufsatz- und Kunstunterricht), müssen die verschiedenen Qualitätskriterien (z. B. Stil, Grammatik, Gedankenführung usw.) benannt und Ausprägungsgrade für ihre mehr oder weniger gute Erfüllung (z. B. guter, mäßiger, schlechter Stil usw.) beschrieben werden.

Es ist zweitens die Bezugsnorm auszuwählen, welche der Beurteilung zugrunde gelegt wird. Das heißt, es muss entschieden werden, wonach Leistungen als gut oder schlecht eingestuft werden – mit Bezug auf eine Gruppenleistung (soziale Bezugsnorm), auf eine fachliche Anforderung (kriteriale Bezugsnorm) oder auf die eigene bisherige Leistung der betreffenden Schüler (individuelle Bezugsnorm). Die soziale Bezugsnorm ist zumindest dann problematisch, wenn die Bezugsgruppe sehr klein ist (z. B. nur eine einzelne Klasse).

Drittens ist auf der Grundlage von Kompetenzmodellen zu bedenken, über welche Mindestkompetenz Schüler verfügen müssen, um höchstwahrscheinlich erfolgreich weiter lernen zu können. Diese Mindestkompetenz repräsentiert das von allen Lernern zu erreichende Lernziel und im Falle einer vorzunehmenden Ziffernbenotung die Untergrenze der Note 4 = »ausreichend«.

Sofern über das Konstatieren der Lernzielerreichung hinaus zur Vergabe von Ziffernnoten fortgeschritten werden soll, ist viertens ein Benotungsmodell erforderlich, d. h. eine Regel oder ein Regelsystem, das den Schülerleistungen Ziffernnoten zuweist. Im Falle eindimensionaler Leistungen ist dies eine Benotungsskala, welche erreichten Punkte- oder Fehlerzahlen Noten zuordnet. Im Falle mehrdimensional-ganzheitlicher Leistungen muss ein Beurteilungsraster angelegt werden, der Beurteilungskriterien und Ausprägungsgrade eindeutig auf Noten bezieht.

Bei der Beurteilung kollektiv erbrachter Leistungen müssen die Arbeits- und Lernprozesse, die Teamprozesse, die Arbeitsergebnisse und die Präsentation der Ergebnisse berücksichtigt werden. Allein die individuellen Leistungsanteile der einzelnen Schülerinnen und Schüler bei der Beurteilung zu berücksichtigen, widerstreitet der pädagogischen Intention kooperativer Unterrichts- und Arbeitsformen (→ Kooperation) (Sacher 2014, Kp.11).

Gegenstand der Beurteilung von Prozessen sollten weniger Teilergebnisse, sondern vor allen Dingen Qualitäten von Lern- und Arbeitsprozessen sein, die sich in den Ergebnissen nicht mehr ohne weiteres zeigen, vor allen Dingen psychodynamische und metakognitive Komponenten der Leistung – die Motiviertheit der Schülerinnen und Schüler, ihre Zielstrebigkeit, Beharrlichkeit, Konzentration und Ausdauer (→ Aufmerksamkeit), ihr Methodenbewusstsein, die Selbstständigkeit, Originalität und Kreativität ihres Vorgehens sowie kommunikative und soziale Kompetenzen (Sacher 2014, Kap.11).

Ein besonderes Problem ist die Beurteilung von Leistungen im differenzierten und offenen Unterricht (Bohl 2009). Ein tragbarer Kompromiss könnte darin bestehen, Grundanforderungen, erhöhte Anforderungen und reduzierte Anforderungen zu unterscheiden und ihnen jeweils bestimmte Notenbereiche zuzuweisen, z. B. auf das Erfüllen erhöhter Anforderungen die Note 2, auf das Erreichen der Grundanforderungen die Note 3 und auf eine reduzierten Anforderungen entsprechende Leistung die Note 4 zu vergeben, wobei in Ausnahmefällen auch Über- und Unterschreitungen um eine Notenstufe möglich sind.

Um Lernenden die Steuerung und Kontrolle ihres Lernens zu ermöglichen, muss ihre Selbstbeurteilungskompetenz entwickelt werden. Dabei sollte weniger die Selbstbewertung und Selbstbenotung im Mittelpunkt stehen als das Erkennen und Beurteilen von Zusammenhängen zwischen einzelnen Faktoren erfolgreichen Lernens – zwischen der Ausgangslage, der Lernplanung, den Lernprozessen und den erzielten Lernergebnissen.

Die mit verbalen Beurteilungen verbundenen Erwartungen, bessere Grundlagen für die individuelle Förderung zu legen, den Leistungsdruck zu vermindern und das Selbstvertrauen der Kinder zu stärken, werden allein durch die Änderung der Beurteilungsform nicht erfüllt. Es bedarf darüber hinaus einer Veränderung der gesamten Schul- und Lernkultur.

Werner Sacher

Literatur


 

Bohl, T. (2009): Prüfen und Bewerten im Offenen Unterricht. 4. Auflage, Weinheim.

Sacher, W. (2014): Leistungen entwickeln, überprüfen und beurteilen. 6. Auflage, Bad Heilbrunn.

Sacher, W./Winter, F. (Hrsg.) (2011): Diagnose und Beurteilung von Schülerleistungen – Grundlagen und Reformansätze (Professionswissen für Lehrerinnen und Lehrer, Band 4). Baltmannsweiler.

Bildung


Bildung ist, neben Erziehung, der am häufigsten benutzte Begriff der Pädagogik und insofern die Beschreibung ihres Grundsachverhaltes. Gegenüber dem deutschen Sprachgebrauch gibt es international keinen vergleichbaren Terminus. Allein die jahrhundertealte Tradition eines um den Bildungsbegriff zentrierten pädagogischen Denkens bedingt Mannigfaltigkeit und Widersprüchlichkeit von Theorien der Bildung (→ Pädagogik, Erziehungswissenschaft). Bildung ist zum einen als enger Begriff geistiger Aneignung der → Erziehung als Führung zur Haltung gegenübergestellt. Unter einem ganzheitlichen Aspekt wird Bildung als Selbst- und Welterschaffung, Mitmenschlichkeit und Sachlichkeit verstanden (Bildung 1988). Bildung als pädagogischer Grundbegriff gründet, seit Herbarts Allgemeiner Pädagogik von 1806, auf der Kategorie der Bildsamkeit, den erzieherisch zu weckenden »Kräften«, die durch das Zusammenwirken von Anlage und Umwelt zur Entfaltung gelangen. Bildsamkeit ist, anders gesagt, »die Fähigkeit, Fähigkeiten auszubilden«, und die findet sich als »Naturtatsache« an jedem Menschen, »unabhängig von Einzelmerkmalen der Leiblichkeit und Geistigkeit« (Tenorth 2011, 3). Mit einem modernen Begriff kann man von → Lernen, von Lernfähigkeit und Lerntätigkeit sprechen. Bildung bezeichnet einerseits den Prozess der Aneignung, zum anderen das Resultat pädagogischer Einwirkung. Da bildende Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Bedingungen zugleich in die soziale Kultur hineinführt, ist sie ein Teil der→ Sozialisation.

Die Geschichte des Bildungsbegriffs verzeichnet sich überlagernde Epochen, deren Ideenspektrum bis in die Gegenwart hinein reicht: theologische, humanistisch-geisteswissenschaftliche, industriell-neuzeitliche, postmoderne Bildung. Neben diesen historisch mehr oder weniger ausgeprägten Bildungstheorien stellen sich, in jeweils zeitgemäßer Facettierung, übergreifende Intentionen dar: der Gedanke einer allgemeinen Menschenbildung unter Vermittlung des naturhaften Lebens (Rousseau); die Autonomie des sich selbst verwirklichenden Vernunftwesens (Kant, Herder, Fichte); die Individualbestimmung (Pestalozzi), die Entfaltung der Individualität als »höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen« (Humboldt). Dieser sich in mannigfachen Abwandlungen offenbarende Grundkonsens legt es nahe, den Begriff der Bildung trotz der Unmöglichkeit einer nur annähernd befriedigenden Operationalisierung und gegen alle missbräuchlichen Verbindungen (Bildungsideal, Bildungswege, Bildungspolitik, Bildungschancen, Bildungskatastrophe usw.) beizubehalten (Menze 1970; Tenorth 1986). So wird nicht nur die »Didaktik als Bildungslehre« (Willmann 1882–89) verstanden, als »Theorie der Bildungsinhalte« (Weniger 1952)...

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