Aufwachsen heute - Veränderungen der Kindheit - Probleme des Jugendalters

Aufwachsen heute - Veränderungen der Kindheit - Probleme des Jugendalters

von: Rolf Göppel

Kohlhammer Verlag, 2007

ISBN: 9783170277328

Sprache: Deutsch

298 Seiten, Download: 7818 KB

 
Format:  EPUB, PDF, auch als Online-Lesen

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Aufwachsen heute - Veränderungen der Kindheit - Probleme des Jugendalters



Einleitung


In dem vorliegenden Band werden unterschiedliche Aspekte, die für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen heute eine wichtige Rolle spielen, thematisiert. Im Zentrum stehen dabei subjektorientierte Fragestellungen: Wie gehen Kinder mit der Selbständigkeit um, die ihnen teils zugestanden, teils eher zugemutet wird? In welchem Verhältnis steht ihr Autonomiestreben zu ihrem Anlehnungsbedürfnis? In welche Zeitstrukturen und Zeitzwänge sind sie eingebunden und wie nehmen sie die „Beschleunigungstendenzen“ unserer modernen Kultur wahr? Wie kommen sie mit der großen Vielfalt der Angebote und Optionen, ihre Freizeit zu gestalten und mit den diversen Erwartungen und Ansprüchen, auch dort musisch, sportlich und sozial möglichst aktiv zu sein, zurecht? Von welchen Faktoren hängt ihr persönliches Wohlbefinden, ihr subjektives Glückserleben ab? In welchem Maße sind Kinder und Jugendliche heute durch psychische Störungen und Verhaltensauffälligkeiten belastet? Welche Rolle spielen die Peergroup-Beziehungen und die immer einflussreicher werdenden jugendkulturellen Trends, Szenen, Moden für ihre Weltorientierung und für ihr Identitätsgefühl? Inwiefern stellen aggressive Verhaltensweisen von Kindern und Jugendlichen Versuche der Aufwertung einer „beschädigten Identität“ und der Kompensation eines prekären Selbstwertgefühls dar?

Aber es geht in diesem Buch nicht nur um die Perspektive der Kinder und Jugendlichen, sondern auch um die Perspektive der Erwachsenen auf die entsprechenden Probleme: Wie haben sich hier die grundlegenden Fragestellungen und Deutungsmuster der Kindheitsforschung im Lauf der letzten 100 Jahre verändert? Was wird heute, angesichts der gängigen These, dass Kindheit ein sozialhistorisches „Konstrukt“ sei, aus jenen traditionellen kinderpsychologisch-anthropologischen Bemühungen, das „Weltbild des Kindes“, das Typische des Denkens, Fühlens und Erlebens auf unterschiedlichen Altersstufen zu beschreiben? Welche Verstehensbedürfnisse, Verstehensmöglichkeiten und Verstehensbarrieren bestehen zwischen den Jugendlichen und den Erwachsenen in ihrem Umfeld? Welche Wahrnehmungen und Problembeschreibungen herrschen im zeitgenössischen öffentlichen Diskurs über Kindheit und Jugend, wie er sich in den Medien und in der Flut der Elternratgeber widerspiegelt, vor und in welchem Verhältnis stehen diese Außenbeschreibungen zu den Selbstbeschreibungen der Kinder und Jugendlichen? Wie gesichert ist etwa die vielfach verbreitete These von der dramatischen Zunahme der Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen?

Jürgen Oelkers hat den typischen öffentlichen Diskurs in diesem Feld folgendermaßen charakterisiert: „Auf merkwürdige Weise sind Nachrichten über Erziehung und Bildung fast immer negativ und verlagen Abhilfe. Die Nachrichten verknüpfen sich mit Signalwörtern, die Betroffenheit auslösen, wobei ganz unterschiedliche Ereignisse und Daten zu Metaphern verdichtet werden, die obwohl vage, unmittelbar mit Schrecken besetzt sind und offenbar Einstellungen beeinflussen können. Es sind abstrakte Nachrichten, solche der Statistik, mit der ‚Tendenzen‘ oder ‚Trends‘ beschrieben werden, die im Einzelfall nicht zutreffen und aber gleichwohl Wirklichkeit zu erfassen scheinen, die abschreckend wirkt und mindestens als unangenehme Komplizierung wahrgenommen wird“ (Oelkers 2003, S. 1). Zu einigen jener „Signalwörter“, die im gegenwärtigen öffentlichen Diskurs um die heutigen Bedingungen des Aufwachsens eine wichtige Rolle spielen, soll in diesem Buch eine kritisch-differenzierende Diskussion geführt werden: „Beschleunigung der Kindheit“, „Kinder im Freizeitstress“, „Vermehrte Selbständigkeitsforderungen an Kinder“, „Niedergang des Kindheitsglücks“, „Zunahme von Verhaltensstörungen“. Das Bemühen dabei ist, ein möglichst realistisches, empirisch abgesichertes Bild der Konstellationen und Befindlichkeiten zu zeichnen und weder in Dramatisierungen noch in Problemverleugnungen zu verfallen.

Mit dem Begriff des „Aufwachsens“ im Titel dieses Buches ist dabei bewusst ein eher neutraler, wenig theoretisch vorbelasteter Überbegriff gewählt. Die anderen denkbaren Schlüsselbegriffe wie „Erziehung“, „Entwicklung“, „Sozialisation“ sind dagegen eher mit bestimmten theoretischen Traditionen und bestimmten Assoziationen verknüpft.

„Erziehung“ als pädagogischer Zentralbegriff zielt primär auf das dyadische „Erzieher-Zögling-Verhältnis“ und auf ganz bestimmte erzieherische Maßnahmen, die in ganz bestimmten Absichten von bestimmten Personen vollzogen werden, ab. Dabei ist jedoch, gerade im Hinblick auf die oben angedeuteten Fragen offensichtlich, dass Eltern, Lehrer, Kinder und Jugendliche sich hier zunächst einmal in komplexen Situationen wiederfinden und auf Probleme reagieren, die über ihr unmittelbares persönliches Verhältnis weit hinausgehen, dass sie sich mit Herausforderungen und Konflikten konfrontiert sehen, die bisweilen mehr durch die gesellschaftlichen Makrotendenzen und Zeitgeistströmungen als durch ihre individuelle Beziehungsgeschichte geprägt sind.

„Entwicklung“ als Leitbegriff ist durch die entwicklungspsychologische Tradition geprägt und zielt, auch wenn es heute zweifellos viele Ansätze zu einer „differenziellen Entwicklungspsychologie“ und damit zu einer Berücksichtigung unterschiedlicher Entwicklungskontexte gibt und somit auch in der Entwicklungspsychologie nicht mehr einfach von einer „Ausfaltung gegebener Anlagen“ ausgegangen wird, letztlich doch auf so etwas wie eine Logik des allmählichen Aufbaus bestimmter kognitiver, emotionaler und sozialer Kompetenzen und weniger auf die Beschreibung aktueller Phänomene und Problemlagen im intergenerationalen Verhältnis.

„Sozialisation“ als der Zentralbegriff der Sozialisationsforschung schließlich umfasst zwar das ganze Panorama der gesellschaftlichen Einflüsse, ist aber doch mehr auf „Wirkungen“ im Sinne von „Prägungen“ oder von „psychischen Niederschlägen“ bestimmter Einflussgrößen auf bestimmte Persönlichkeitsstrukturen ausgerichtet und weniger auf die Prozesse der produktiven Auseinandersetzung mit Problemen, der subjektiven Verarbeitung von Erfahrungen und der interaktiven Aushandlung von Konflikten.

Der Begriff des „Aufwachsens“ ist einerseits ein geläufiger Alltagsbegriff, er wurde aber auch von prominenten Kindheits- und Jugendforschern bewusst verwendet, um gerade die Komplexität der Zusammenhänge zwischen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, zeittypischen Problemdeutungen, generationsspezifischen Erziehungsmentalitäten und den subjektiven Verarbeitungsformen und Reaktionsweisen der Kinder und Jugendlichen in einer bestimmten Epoche zu beschreiben. In diesem Sinne hat Helmut Fend eine differenzierte „Sozialgeschichte des Aufwachsens“ vorgelegt (Fend 1988), in der er verschiedene „Generationsgestalten“ in ihrer Verwobenheit mit der jeweiligen gesellschaftlich-kulturellen Hintergrundsituation beschreibt. Es geht ihm dabei darum, „die Veränderung von Lebensverhältnissen und Bedingungen des Aufwachsens mit dem Wandel in Mentalitäten und Persönlichkeitsstrukturen der Heranwachsenden zu verbinden“ (ebd., S. 11) und dabei jene Prozesse zu verstehen, die zur Ausprägung unterschiedlicher Denk- und Habitusformen bei den jeweiligen Jugendgenerationen geführt haben.

Während Fends Analysen zur Geschichte des Aufwachsens somit historisch-rekonstruktiv angelegt sind, hat Lothar Krappmann im Vorwort und im Resümee des X. Kinder- und Jugendberichts, für den er federführend verantwortlich war, eher zukunftsorientiert-appelativ die Entwicklung einer „Kultur des Aufwachsens“ gefordert. In diesem Sinne schreibt er: „In diesem Bericht versuchen wir, die Bedingungen des Aufwachsens aus der Perspektive der Kinder zu analysieren. Unsere Schlussfolgerungen sind auf das Ziel ausgerichtet, Kindern und ihren Eltern stimmige Lebenszusammenhänge zu bieten, eine Kultur des Aufwachsens, die Kindern die Erfahrungen eröffnet, die sie zur Freude am Leben und zur Entwicklung ihrer Fähigkeiten brauchen und die es Erwachsenen leichter macht, mit Kindern zu leben, als es widersprüchliche Verhältnisse derzeit erlauben“ (Krappmann 1998, S. 10).

Die Hoffnung, mit der Abfassung eines Textes, und sei es selbst ein Text im Range eines offiziellen Kinder- und Jugendberichts für eine Bundesregierung, dem anspruchsvoll Ziel näher zu kommen, „Kindern und Eltern stimmige Lebensverhältnisse zu bieten“, ist vielleicht etwas verwegen. Dennoch erscheint es durchaus wichtig, solche Zielperspektiven zu entwickeln und jene Schmerz- und Problempunkte, die diesen entgegenstehen, klar zu benennen und in die öffentliche Diskussion zu bringen. Gleichzeitig ist es wichtig – und dies kann man Krappmann und seinen Mitautoren durchaus zubilligen –, bei der Beschreibung der aktuellen Lage der Kindheit und Jugend nicht in die gängige Klage- und Niedergangsrhetorik zu verfallen, sondern differenziert die komplexen heutigen Realitäten und die darin enthaltenen „riskanten Chancen“ zu beschreiben.

Der Begriff der „riskanten Chancen“ spielt natürlich auf jene soziologischen und sozialpsychologischen Analysen der gesellschaftlichen Veränderungstendenzen an, die im Umfeld der Individualisierungstheorie geliefert worden sind. Von Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim gibt es einen Sammelband mit dem Titel „Riskante Freiheiten“ (1994), in dem unter anderem über Wandlungstendenzen der Familie und der Kindheitsräume, über Ambivalenzen postmoderner Identitätsbildungsprozesse und über...

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